Was ist eigentlich Drape?

Diese Frage, die in E-Mails und Forenbeiträgen immer wieder auftaucht und über die jeder, der sich ein wenig intensiver mit klassischer Herrenmode und Schneiderhandwerk beschäftigt, in absehbarer Zeit stolpert, ist nicht ohne weiteres in einem Satz zu beantworten. Auch oder gerade deshalb wird mit begriffen wie Drape oft ohne größeres Wissen oder fachlichen Ehrgeiz hantiert. Zeit für Klärung:

Der Begriff geht auf eine spezielle Art, Anzüge zuzuschneiden zurück, die vermutlich um 1910 von Frederik Scholte, einem in England ausgebildeten Schneider, entwickelt wurde. Die Idee des sogenannten drape cut bestand darin, den klassischen Herrenanzug von seinen militärischen Einflüssen zu befreiten. Damals war der durchschnittliche Anzug noch wesentlich steifer verarbeitet als neuere Modelle: Feste Schulterpolster, schmale Schultern und viele übereinandergenähte Schichten geleimten Einlagematerials dominierten die Silhouetten der gängigen Stadtanzüge. Scholte stellte dem seine Vision des bequemen und eleganten Anzuges entgegen, die vor allem bei antiken, größtenteils drapierten Gewändern ihre Anleihen nahm. Sein Zuschneidestil war geprägt durch eine möglichst geringe Anzahl von Nähten und lockere, den Körper des Trägers umfließende Linien mit teilweise stark überschnittenen Schultern, die in geräumige Ärmel münden. Die resultierende lose Passform wurde durch geringe Bügelarbeit und sehr wenige und weiche Einlagen, fixiert durch weit auseinanderliegende Handstiche und häufig durch die Abwesenheit von Schulterpolstern noch betont. Das charakteristischste Merkmal eines drape suit waren jedoch die integrierten Stoffreserven, die in weichen vertikalen Falten auf der Vorder- und Rückseite des Sakkos um die Achsel herum angelegt waren und für einen erhöhten Bewegungsspielraum sorgen sollten. Der Schnitt wurde vor allem unter Filmstars schnell beliebt und in der Folge von Zahlreichen Schneidern adaptiert, man nannte ihn den english blade cut.

Bereits damals war jedoch klar: Solche Anzüge sind nicht für jedermann. „Some swear by our suits, some swear at them.“, wie John Hitchcock, Chefzuschneider von Anderson & Sheppard, einem der wenigen Betriebe, die noch heute Scholtes Schule die Treue halten, selbst sagt. Man liebt die weiche, fließende, Komfort ausstrahlende Silhouette des drape cut oder man hasst deren saloppen Eindruck und losen Stoffeinsatz. Einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Vermutlich auch deshalb wird man heute kaum Schneider finden, die dieses Zuschneidestil in Reinkultur praktizieren. Allerdings ist der Einfluss Scholtes auf moderne Auffassungen von Anzugpassform und -verarbeitung in vielen Hausstilen mehr oder weniger deutlich zu erkennen. Viele Schneider übernahmen einige Details, die sie für nachahmenswert hielten in ihren Zuschneidestil oder entwickelten Ideen aus dessen Gedankenschule weiter. So hat der drape cut insgesamt zu einer veränderten Sicht auf Passformideale geführt, die sich vielleicht am deutlichsten an der Art zeigt, wie Brustpartien vor und nach der drape-Revolution geschnitten wurden: Klassischerweise assoziiert man mit einem gut passenden Sakko eine knappe, die Kontur des Trägers nachzeichnende Brustpartie, die glatt am Körper anliegt. Viele Schneider arbeiten diese Partie heute jedoch slightly draped, also mit etwas Stoffzugabe, die die Mobilität steigern und für ein angenehmeres Tragegefühl sorgen soll.

Mit dieser neuen Wahrnehmung eines drape cut geht jedoch ein guter Teil der Definitionsschärfe der alten Auffassung des Begriffes verloren, drape verkommt schlechterdings zum Synonym für lose Passform. Damit jedoch geht jedoch zu unrecht unter, was den drape cut eigentlich ausmacht: Eine Passformphilosophie, die die Anzugkultur revolutionieren wollte.

Kategorie: Magazin

Florian S. Küblbeck

Florian S. Küblbeck ist freier Journalist und schreibt vor allem über Mode, Stil und Genuss. Mit seinem Erstwerk "Was Mann trägt: Gut angezogen in zwölf Schritten" gab er 2013 sein Debüt als Buchautor.

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